Am 4. Tag des Tihar-Festes wurde das Haus unserer Gastfamilie von einer Gruppe von Tänzern besucht, die neben einer traditionellen Madala-Trommel zwei ziemlich untraditionell anmutende Aktivboxen und einen DVD-Player mitbrachten, wofür sie natürlich erst mal Strom brauchten. Ihren Auftritt begannen sie mit einem wiederum sehr traditionellen Lied — dem Deusi (sprich “Dousi”). Dabei singt der Vorsänger jeweils einen Satz, worauf die anderen mit “Deusi Re” antworten. Der folgende Videoclip vermittelt einen idealisierten Eindruck davon (und lief in einer tagelangen Endlosschleife im nahen Supermarkt). Im Anschluss daran erschallte aus den Boxen eine wilde Mischung aus westlichen Techno- und HipHop-Rhythmen und entfernt nepalesisch klingenden Melodien, zu denen die Tänzer eifrig das Tanzbein schwangen.
Nachdem wir Ihnen einige Rupien und ein paar symbolische Nahrungsmittel gespendet hatten, tanzten sie noch eine Weile und beendeten ihren Besuch bei uns mit einem erneuten Deusi. Wenig später machten wir uns wieder auf den Weg, um nach weiteren sichtbaren Zeichen des Festes Ausschau zu halten. Nachdem wir nach mehr als einer Stunde zwar Vieles, aber nicht das Gesuchte gefunden hatten, trafen wir mal wieder auf einen Bewohner Kathmandus, der sich überaus freundlich und interessiert erkundigte, woher wir kamen und wohin wir wollten. Nachdem wir ihm sagten, dass wir auf der Suche nach den geschmückten Kühen vom Vortag seien, empfahl er uns die Tempelanlage Pashupati zu besuchen, da wir dort fündig werden müssten. Er ließ es sich auch nicht nehmen uns sogleich ein Taxi zu rufen und für uns den Fahrpreis herunter zu handeln. Zu guter Letzt gab er uns noch seine Handynummer und das Angebot, ihn anzurufen, falls wir irgendwelche Probleme haben sollten. Donnerwetter, das ist mal Hilfsbereitschaft! In Pashupati angekommen, wurden wir sofort wieder von Tour Guides wie ein Haufen Scheiße von Fliegen umschwärmt . Dabei hatten wir an diesem Tag sogar vorher geduscht… Die Luft bei Pashupati war schwer von Rauch, der vom heiligen Fluss Bagmati herüberkam, weil an diesem Ort die Toten verbrannt und ihre Asche dem Wasser übergeben wird.
Da bis zum Sonnenuntergang nur noch wenig Zeit blieb, machte ich im Schnelldurchgang einige Bilder, bevor wir uns wieder auf den Rückweg begaben.
Wieder zurück bei unserer Gastfamilie veranstalteten wir mit großem Vergnügen unser eigenes Deusi Re. Gleichzeitig und bis spät in die Nacht demonstrierten uns die Nachbarn, was sie unter einem zünftigen Feuerwerk verstehen und so mancher Böller kam von der Lautstärke her durchaus einer Übungsgranate nahe. Mit entsprechend wenig Schlaf bin ich zusammen mit Svenja am nächsten Morgen früh um fünf aufgestanden, um den Höhe- und Schlusspunkt des Tihar-Festes von Anfang an mitzubekommen. Der 5. Tag des Festes trägt den Namen Bhai Tika und markiert den Anfang des neuen Jahres in Kathmandu. Besondere Bedeutung bekommt dieser Tag, weil an ihm das Fest von Bruder und Schwester stattfindet. Die Schwestern kochen für ihre Brüder, beten für deren langes Leben und verpassen ihnen ein Tika auf der Stirn und erhalten im Gegenzug Geschenke und/oder Geld. Für all diejenigen, die keine Geschwister haben, gibt es die Möglichkeit, ihr Tika im Bal Gopal — einer sehr markanten Tempelanlage im Herzen Kathmandus — zu bekommen. Eben dort führte unser Weg auch vorbei, als wir unterwegs zum Durbar Square waren, auf dem an diesem Tag ein großer Umzug stattfinden sollte.
Als wir kurz nach Sonnenaufgang den Durbar Square erreichten, war dieser noch recht leer im Verhältnis zum geschäftigen Treiben, das hier an normalen Werktagen herrscht. Nur ein großes Pavillionzelt und ein paar Lautsprecher verrieten, dass etwas anders war. Das sollte sich aber binnen der nächsten Stunde rapide ändern, während derer sich ein steter Strom von Menschen auf den Platz ergoss.
Besonders ins Auge fielen die meterlangen Lingo-Stäbe, die von ihren Trägern kreisförmig über dem Kopf oder um den Rumpf geschwungen wurden. Hierbei handelt es um eine Tradition der Newari, die ursprünglich aus Tibet stammt. Ganz am Anfang des Spektakels stand eine Art Initiationsritus, bei dem die beteiligten Akteure menschliche Pyramiden errichteten, die schließlich von einem Lingo-Träger bestiegen wurden, damit dieser in derart luftiger Höhe eine Drehung des Lingo vollführen konnte, ohne mitsamt seinem Stab abzustürzen.
Anstatt einer einzigen Prozession schienen sich derweilen fünf verschiedene gleichzeitig zu ereignen, die zudem quer durcheinander verliefen. Ab einem gewissen Punkt kristallisierte sich dann doch ein großer Umzug heraus, der den Platz einmal umrundete und nach einer kurzen Pause seinen Weg hinaus in die Stadt nahm.
So langsam machte sich dann doch der Schlafmangel bemerkbar, weswegen wir uns auch auf dem schnellsten Weg nach Hause begaben. Dort blieb aber nicht viel Zeit zum Ausruhen, da kurz nach Mittag der eigentliche Höhepunkt des Tages zelebriert werden sollte — das Bhai Tika im Kreis der Familie. Also fanden wir uns im Wohnzimmer zusammen. Die männlichen Praktikanten übernahmen symbolisch die Rolle der Brüder, während die weiblichen Praktikantinnen den Part der Schwester zugewiesen bekamen. Die wichtigsten Rollen spielten natürlich die Kinder unserer Gastfamilie. Die Tochter heißt Muskan und ist jetzt sechs Jahre alt und unglaublich süß. Der Sohn heißt Nasib, ist zwölf und sehr — sagen wir mal lebendig. Das Zeremoniell begann damit, dass sich Nasib, Simon (ebenfalls Praktikant) und ich nebeneinander auf den Boden setzten. Daraufhin zog Muskan, geführt von ihrer Mutter Seila, mit einer kleinen Kanne, deren Inhalt aus einer Mischung aus Öl und Wasser bestand, einen geschlossenen Kreis um uns drei Jungs. Dieser sollte alles Böse von uns fernhalten. Als Nächstes gab uns Muskan jeweils einen Tropfen Öl aufs Haupt. Danach bekam jeder von uns erst einen Strich mit einer klebrigen Flüssigkeit auf die Stirn und darauf dann das Tika, bestehend aus sieben knalligen Farben. Zu guter Letzt bekamen wir noch Blumengirlanden umgehängt, einen Topi-Hut aufgesetzt und einen Teller mit größtenteils nepalesischen Leckereien in die Hand gedrückt. Nachdem dies vollbracht war, wurden nun alle weiblichen Anwesenden von Nasib mit Blumengirlanden und Geschenken versorgt. Zum Abschluss überreichten wir (die Praktikanten) den beiden Geschwistern unsere Geschenke und damit ging der offizielle (familiäre) Teil des Tages zu Ende.